#communityprojekt100 - 100 ikonische Streetfotos #28

Fred Herzog born 1930 Stuttgart, Germany Man with Bandage, Vancouver, Canada, 1968.

Mein Name ist Sibylle Nuñez Diaz und ich bin auf der Jagd nach Momenten. Das Leben ist kurz und überall ist, kommt und geht Schönheit, tauchen Geschichten aus dem Nichts auf und gehen in Selbiges zurück. Wehmut hat mich getrieben, Momente mit Worten einzufangen, sie in kurzen Texten zu retten. Ganze Hefte habe ich vollgeschrieben, bis die erste Digitalkamera in meiner Hand lag. Weit entfernt von ISO und Blenden bin ich raus auf Jagd gegangen. Wurde von der Flamencochoreografin Catarina Mora in die erste Reihe bei Flamenco- oder Ballettproben gesetzt und habe das was ich kann, in der Praxis gelernt. Ein Farbjunkie eigentlich, und deswegen auch etwas erschrocken über die eigene Courage mich bei diesem Projekt anzumelden – weil ich davon ausging daß es wohl schwarzweiß werden müsse.

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Heute, atemlos nachdem ich mein Bild im Kasten habe und mich erstmals in die Person Fred Herzog einlese, bin ich freudig überrascht, daß mir ein 1930 geborener Stuttgarter, Wahlkanadier und obendrein Pionier der Farbfotografie ans Herz gelegt wurde. Da bin ich zu Hause! Fred Herzog, der Impulsgeber der „New-Color-Fotografie“, der Ende der 60iger Jahre bekannt wurde. Sein Stil war der eines unaufdringlichen Beobachters. Herzog liebte es, weitgehend unentdeckt zu bleiben. Seine Bilder waren fast nie geplant und spielen mit Körpersprache und dem Moment. Ich stimme zu: Im besten Falle ist der Fotograf unsichtbar und der zu fangende Moment kann in aller Unschuld unverstellt geschehen.

Also ein Farbbild. Danke! Andererseits – liebe Güte, wer wird mir bei Minusgraden im T-shirt Modell stehen? Mit all seinen auf einen Fluchtpunkt ausgerichteten endlos geraden Linien saugt das Bild meine Gedanken direkt in sich hinein um mir seine Geschichte zu erzählen. Von Gegensätzen zweier zufällig beieinander stehender Menschen, verbunden durch den in seinen Rücken gebohrten Blick der alten Dame. Aufgereiht wie Perlen einer Kette. Er – tiefenentspannt bis zur Achtlosigkeit, Hüfte leicht nach vorn geschoben, hängender Arm mit Zigarette. Die Stadt ist sein Wohnzimmer, hier kennt ihn jeder - auch der, dem er zuwinkt. Kleidung ist ihm egal. Er ist verletzlich in seinem dünnen Shirt, verletzt gar an der Hand und im Gesicht. Kommt wahrscheinlich aus dem Barber Shop. Er strahlt trotzige Freiheit aus, das sich ausdehnende Weiß des T-shirts unterstreicht das. Die alte Dame dagegen in der Rüstung eines reichlichen dicken schwarzen Mantels, bewehrt mit Hut, Stock und Handschuhen. Für sie birgt die Stadt Gefahren und zwielichtige Gesellen wie diesen Mann den ihr Bannblick gefühlt auf Abstand hält. Sie richtet sich sorgfältig für die Stadt her. Diese Rüstung schützt sie, engt sie aber gleichzeitig ein – hier unterstrichen vom Schwarz des Mantels als Gegenpol. Vielleicht birgt ihr mißbilligender Blick ein kleines Bedauern, nicht so frei zu sein wie der Mann vor ihr.

Übersetzt in das Stuttgart von heute? Finde eine Bushaltestelle in einer Straßenflucht mit langen geraden Linien. Wer besetzt die Rollen? Nach einem Versuch mit meinem 14jährigen Sohn als Frontmann mußten wir nach heftigen Protesten erstmal einpacken. Zu kalt! -3 Grad und alle gucken! Die Lösung – straßenleerer Sonntag und ein wirklicher Freund. Danke Marc! Wir haben jetzt also genau den rauhen Kerl mit Zigarette und dünnem Shirt. Die Rolle bleibt die gleiche wie bei Fred Herzog. Die alte Dame allerdings (in Coronazeiten bei der Kälte nicht zumutbar) wird von Fabio verkörpert, fest eingemummt im Kokon seiner behüteten ausgehenden Kindheit. Mit Maske und Mütze, so wie es der Tag heute verlangt. Auch er mißbilligt – den Raucher, die Maske, die nur vom Ohr hängt. Wie kann man. Das Skateboard fest unter den Arm geklemmt – ein bißchen mehr Freiheit wird auch für ihn kommen. Vielleicht im Sommer...

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Der Fotograf wollte seine Stadt so festhalten wie sie ist und fragte sich, was Betrachter späterer Jahre darin sehen würden. Danke Fred Herzog, und wo immer Du jetzt bist - schönen Gruß aus Stuttgart!

Stuttgart, 30. November 2020, Sibylle Nuñez Diaz