#communityprojekt100 - 100 ikonische Streetfotos #33

„Halle. Eine Impression.“ Ute Kopka, im Januar 2021
Interpretation von John Dudley Johnston: „Liverpool - An impression.“ (1906)

„Das Foto sieht aus wie ein Gemälde“ war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, als ich meine Buchseite aufgeschlagen habe. Auch der Titel des Fotos weckt sofort Assoziationen zum Impressionismus und zu Claude Monets berühmtem Bild „Impression. Soleil levant“, das einer gesamten Kunstrichtung ihren Namen gegeben hat.

Johnstons Bild zeigt einen Straßenzug in Liverpool, der komplett in Nebel gehüllt ist. Das Bild ist sehr minimalistisch, der Nebel lässt alle Details im Bild verschwinden. Es strahlt eine große Stille und Einsamkeit aus. Die Straße ist eingerahmt von engen, hohen Häuserzeilen. Ein Passant lässt ich im Schein einer einzelnen Straßenlaterne nur erahnen. Alle im Bild abgebildeten Dinge sind sehr verdichtet - wahrscheinlich hat Johnston eine große Brennweite verwendet. Dreh- und Angelpunkt bildet eine dunkle Kutsche in der unteren Bildmitte, die sich in den Nebel hinein entfernt. Ein ähnlicher dunkler Angelpunkt, der das Bild zusammenhält, ist in Form eines Boots auch bei Monets Sonnenaufgang zu finden. Künstlerisch noch viel stärker beeinflusst als von Monet wurde der Fotograf von dem amerikanischen Maler James McNeill Whistler, besonders von seinen nächtlichen monochromen Stadtansichten von London, bei dem es Whistler vorrangig um harmonische Farbeffekte ging. Typisch für die wenigen von Johnston überlieferten Fotos ist die neblige Stimmung, die ihn faszinierte und die er in fast alle seine Bilder integrierte, seien es Landschafts- oder Streetfotos. John Dudley Johnston war Vertreter des Piktoralismus. Fotografen dieser Stilrichtung strebten danach, nicht ein simples Abbild der Realität zu erzeugen, sondern seine symbolische Darstellung von Gemütszuständen oder grundlegenden Werten. Ziel der Piktoralisten war es, die Fotografie als vollwertiges künstlerisches Ausdrucksmittel zu etablieren. Stilistisch orientierte man sich dabei am Naturalismus, am Impressionismus und auch am Symbolismus.

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Über John Dudley Johnston selbst und seine Tätigkeit als Fotograf ist fast nichts bekannt. Bekannter und bedeutsamer war sein Wirken als Kurator der Royal Photographic Society, der er seit 1924 angehörte. Dort baute er eine große Sammlung von Werken bedeutender Fotografen auf, besonders aus dem 19. Jahrhundert. Bis zu seinem Tod im Jahr 1955 hatte er über 3000 Werke für die Sammlung zusammengetragen. Johnston wird als sehr zurückhaltend beschrieben; er war ein guter Zuhörer, war sehr effizient und hatte einen trockenen Humor. Sein eigenes fotografisches Werk hat zu Unrecht weniger Beachtung und Wertschätzung erhalten als das seiner Zeitgenossen, und „Liverpool - An Impression“ ist bei weitem sein bekanntestes Werk.

Das wirklich Besondere an Johnstons Bild ist der Gummibichromatdruck, in dem es vervielfältigt wurde und durch den es seinen eigentlichen Charakter erhält. Bei diesem Verfahren wird starkes Papier mit einer Mischung aus Gummi arabicum, Kalium- oder Ammoniumbichromat und einer wasserlöslichen Farbe eingestrichen. Sobald diese Lasur getrocknet ist, wird ein Kontaktabzug vom Negativ für acht bis zehn Minuten belichtet. Danach wird das Papier in klarem Wasser entwickelt. Die Bichromatverbindung ist lichtempfindlich und sorgt dafür, dass die Farben und das Gummi arabicum an den belichteten Stellen im Bild aushärten. Alle nicht gehärteten Substanzen werden mit klarem Wasser ausgewaschen; diese Stellen erscheinen im Bild hell. Der Fotograf und Künstler kann in die Bildgestaltung eingreifen, indem er das Bild mit einem Pinsel zusätzlich bearbeitet. So kann auch der Nebel im Bild erzeugt werden. Dieses Verfahren und die Art der Bildbearbeitung waren bei den Piktoralisten sehr beliebt; oft waren die Negative dieser Drucke scharf und sehr kontrastreich. Auch von Johnstons Bild existieren Varianten in hellem Tageslicht und mit deutlich mehr erkennbaren Details, besonders auf der rechten Bildseite. Bis heute besteht der im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verbreitete Gummidruck als Edeldruckverfahren in der Fotografie fort.

Für die Umsetzung meiner Interpretation von Johnstons Bild wollte ich mir eine typische Stadtansicht meiner Heimatstadt Halle aussuchen. Das Royal Insurance Building in Johnstons Bild ist ein Landmark Building für Liverpool, und ebenso wollte ich ein Gebäude auf meinem Foto, bei dem jeder, der Halle kennt, sagt, ja, das ist Halle. Gleichzeitig habe ich mir eine hohe, enge Straße mit möglichst wenig Autos gesucht, und das war gar nicht so einfach. Hohe Straßenzüge gibt es hier bei uns im Paulusviertel in Hülle und Fülle, aber keinen einzigen, der nicht rechts und links mit Autos zugepflastert ist. Daher habe ich in der Halleschen Innenstadt gesucht und habe mir dort die Umgebungsstraßen der hohen Gebäude angeschaut, besonders rund um die Marktkirche, den Roten Turm und den Leipziger Turm. Hier gibt es zwar weniger parkende Autos, aber jede Menge Oberleitungen von Straßenbahnen, die in großer Menge kreuz und quer durch das Bild verlaufen. Insofern bin ich froh, dass ich die Rathausstraße gefunden habe, ohne Straßenbahnen und nur mit wenigen Autos, in deren Hintergrund die Türme der Marktkirche zu sehen sind, die mit ihren beiden Hausmannstürmen und beiden Blauen Türmen ein Wahrzeichen unserer Stadt ist. Die Straßen der Innenstadt sind wegen der geschlossenen Geschäfte in der Innenstadt relativ menschenleer – das kam meinem Foto entgegen.

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Johnstons Bild lebt von der schummerigen Beleuchtung. „Ich wünsche Dir wenig Licht“, schrieb mir treffenderweise einer meiner Mitstreiter bei Facebook. Daher ein erster Versuch zur blauen Stunde. Doch ich erlebte eine Überraschung! Zunächst waren die Hausmannstürme der Marktkirche mit einer langen Lichterkette geschmückt, die so gar nicht ins Bild passte, und mit Einsetzen der Dämmerung verwandelte die Straßenbeleuchtung die ganze Szenerie in ein Lichtermeer. Also brauchte ich Tageslicht ohne Sonne an einem möglichst grauen Tag für mein Foto. Zwei Tage später hatte ich Glück und wir hatten dicken Nebel. Kein Nebel in Bodennähe, so wie auf Johnstons Bild, aber genug, um eine triste Stimmung zu erzeugen und die Marktkirche im Hintergrund nur schemenhaft sichtbar zu machen. Ich habe ein Carl Zeiss Jena Vario Pancolar 2.8/35-70 von 1988/89 bei einer Brennweite von 70mm an meiner Canon EOS 80D verwendet und zunächst eine Testaufnahme gemacht, um zu sehen, ob der Frame passte. In diesem Moment bog ein Auto mit einem altmodischen Anhänger in die Straße, und dies ist letztendlich mein Bild geworden. Alle später aufgenommenen modernen Fahrzeuge waren im Gesamtbild nicht stimmig – 1906, im Jahr von Johnstons Aufnahme, gab es bereits eine ganze Reihe von Autos und eine Kutsche gehörte zu einer langsam zu Ende gehenden Zeit. Ich habe auch überlegt, einen Fahrradfahrer anstelle des Autos darzustellen, da auch auf dem Originalfoto mit dem Kutscher ein einzelner Mensch mitten im Bild gut erkennbar ist. Ich konnte aber während der anderthalb Stunden, die ich dort war, kein einziges Bild machen, auf dem nicht zusätzlich zu einem Radfahrer weitere Autos in Bild fuhren. Deshalb habe ich diese Idee verworfen, zumal der Spezialanhänger wirklich gut zum Bild passte.

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So, wie Johnston Nebel in der Bearbeitung seines Abzuges erzeugt hat, musste ich ebenfalls nachträglich Nebel zu meinem Bild hinzufügen, da der Hochnebel für den nebeligen, atmosphärischen Bildeindruck nicht ausreichte. Nach der s/w-Umwandlung und normalen RAW- Entwicklung habe ich noch in Lightroom die Belichtung um anderthalb Blenden verringert, zwei Lampen auf der linken Seite des Bildes angezündet und die Klarheit im nebligen Himmel erhöht, damit die schemenhafte Marktkirche etwas besser sichtbarer wird. Danach habe ich in Affinity Photo die Straßenmarkierungen für die Parkboxen auf der rechten Bildseite entfernt und gezielt mit Fog brushes Nebel in die untere Bildhälfte gemalt. Damit war meine Interpretation des Bildes fertig.

Ein paar Worte über mich selbst: Ich heiße Ute Kopka und bin 54 Jahre alt. Ich fotografiere fast ausschließlich mit Altglas an einer Canon EOS 80D, und mein Herz gehört den wunderbaren alten Objektiven von Zeiss und Meyer. Ich war sieben Jahre, als ich meine erste Kamera bekam und begeistere mich seither für Fotografie. Ich habe viele, viele Jahre analog fotografiert und bin erst auf eine digitale Spiegelreflexkamera umgestiegen, als ich gelernt habe, wie ich meine alten Objektivschätze an einen modernen digitalen Body adaptieren kann. Ich bin mit meiner Fotografie auf kein Genre festgelegt, fotografiere Landschaften, Architektur, Street, Pflanzen und Tiere und seit Herbst dieses Jahres mit großer Begeisterung Porträt. Ich liebe das Bokeh meiner alten Objektive und setze es als Gestaltungsmittel ein, so oft es geht. Meine Bilder sind auf Instagram in meinem Profil @eti.ute zu finden. Mein nächstes größeres Fotoprojekt wird sein, eine bei uns im Hause vorhandene Mentor 13x18 Großformatplattenkamera zu reaktivieren. Insofern bin ich Frank besonders dankbar dafür, dass er mir gerade dieses Bild ausgesucht hat, da ich dadurch das Gummidruckverfahren kennengelernt habe. Mehr noch als die Auseinandersetzung mit Johnstons Portfolio und der Erweiterung meiner Kenntnisse in Affinity Photo war mein Wissensgewinn zum Gummibichromatdruck und anderen Edeldruckverfahren der größte Lerneffekt des Projekts. Ich habe mir fest vorgenommen, meine selbst entwickelten Negative aus der Mentor mit Gummidruck zu vervielfältigen, und darauf freue ich mich schon jetzt.

Ein Riesendankeschön an Frank Fischer für die Idee und die Initiierung dieses wunderbaren Projekts und die Energie, mit der Du, Frank, dieses Vorhaben immer wieder vorantreibst! Ich freue mich und bin stolz, dass ich ein Teil davon sein kann.