#communityprojekt100 - 100 ikonische Streetfotos #39

Louis Faurer – „Accident“ (1952)

Das mir zugefallene Foto stammt vom US-amerikanischen Fotografen Louis Faurer (1916 – 2001). Es trägt den Titel „Accident“, zu Deutsch „Unfall“, und der Titel trifft das Bild auf mehreren Ebenen. Denn zum einen zeigt das Foto eine Szenerie im Nachgang eines Verkehrsunfalls. Zum anderen ist es aber selbst ein technischer Unfall, und zwar insofern, als Faurer aus Versehen eine Doppelbelichtung vorgenommen hat. Das Bild kombiniert die genannte Szene mit einer weiteren, die im Kontext einer Hochzeit entstanden zu sein scheint

Das Bild bietet einen Jungen im Vordergrund links als Identifikationsfigur, uns halb zugewandt, leicht gebeugt und in sich selbst umarmender Haltung. Er lässt den Blick nach rechts aus dem Bild heraus schweifen, wo sich verschwommen und (alb)traumartig die andere Szene mit dem Bild mischt. Hinter ihm eine markierte Unfallspur mit Blutfleck, Autos und Passant*innen, die den Platz einrahmen. Das Foto scheint leicht von oben nach unten über eine Schulter aufgenommen worden zu sein. Der Platz wirkt beengt eingerahmt, das Foto ist nicht ausgerichtet, und es gibt keinen Himmel zu sehen, was in Kombination ein Gefühl von Beklemmung und Schwindel fördert. In seiner Gesamtheit evoziert das Bild eine Idee von Grusel, Schock und Entrücktheit. Man mag aber auch ein Gefühl des Alleingelassenseins herauslesen.

Interessanterweise wurde Louis Faurer viele Jahre später selbst als Fußgänger Opfer eines nicht-tödlichen Verkehrsunfalls, in dessen Folge er die Fotografie aufgab. Dieser Umstand ist nur auf der Meta-Ebene interessant und sicher eine bemerkenswerte Fußnote, trägt aber zum Bild als solchem nichts bei.

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Der Unfall als Bildthema

Kann, darf und soll man Bilder von Unfällen zeigen – das Thema wirft ethische Fragen auf, die sich um die Würde der Person, aber auch das Zeigen unangenehmer Bilder drehen. Ein aktuelles Thema ist es allemal: immer wieder werden Fälle von Gaffer*innen bekannt, die z.B. Rettungsarbeiten behindern oder Selfies am Unfallort machen. Menschen, die scharf sind auf das Spektakel. Auch die Personen im Bild mögen Zeug*innen oder Gaffer*innen sein.

Faurer verzichtet hier aber auf jedes unmittelbare Spektakel. Vielmehr vermittelt das Bild durch seine Vielschichtigkeit auf ungewöhnliche Art und Weise die Erfahrung, Zeuge eines Unfalls geworden zu sein. Wir versetzen uns in das Geschehen hinein, und lesen das Gefühl aus dem Gesicht des Jungen ab. Etwas ganz ähnliches lässt sich in vielen Filmen des US-amerikanischen Regisseurs Steven Spielberg beobachten, das sogenannte „Spielberg-Face“. Ich kann nur empfehlen, sich damit einmal zu beschäftigen.


Faurers „Accident“ als Inspiration

Bei dieser Art von Fotografie macht es für mich wenig Sinn, das Bild im Hinblick auf alle technischen Aspekte der Gestaltung hin zu analysieren. Eine genaue Betrachtung der Komposition, der Wirkung, der Geschichte, des Kontexts und der eingeflossenen Ideen bringen hier m.E. wesentlich weiter, auch da es nicht um eine originalgetreue Reproduktion dieser speziellen Fotografie gehen soll.

Meine Foto-Idee bezieht sich eindeutig auf das Thema „Unfall“. Natürlich wollte ich aber weder einen realen Unfall inszenieren, noch einen simulieren. Vielmehr stelle ich hier das Bildthema von „Accident“ erzählerisch auf den Kopf. Der Begleittext im Buch charakterisiert das gesamte Bild zu Recht mit einem Vokabular, das die Ungewissheiten unterstreicht. Wir wissen nicht genau, was wir da alles sehen, was genau passiert ist. Wir ahnen es nur. Der Moment des Unfalls ist für mich hier so etwas wie eine zeitliche Spiegelachse. Ich will nicht das Danach zeigen, sondern ein mögliches Davor.

Umsetzung – mein Ausgangspunkt als Fotograf

Ich hatte schon immer eine starke Präferenz für klare Formen, Linien und saubere Bildaufbauten. Deshalb habe mich entschieden, eine weniger dichte bzw. wimmeligere Komposition durch die Kombination von zwei oder mehr Bildern zu erzeugen. An der Doppel- bzw. Mehrfachbelichtung wollte ich festhalten, um zumindest den Bild-Look zu imitieren, ohne das Foto selbst zu kopieren. Andere Aspekte, die ich übernehmen wollte, waren die Neigung des Bildes, der starke Eindruck von Bildtiefe durch Staffelung der Bildelemente im Raum und starke Unschärfe-Effekte, die Körnung, sowie ein aus größerer Distanz aufgenommenes Zweitmotiv.

Doppelbelichtung – diese Technik, ob zufällig oder nicht, eröffnet natürlich viele Möglichkeiten in der Bildgestaltung. Erfahrung habe ich hiermit bislang nicht gesammelt, ausgenommen zufällige Doppelbelichtungen mit billigen Analogkameras aus meiner Jugend, die einfach nur unansehnliche technische Fehler waren. Für das Projekt fiel aufgrund der Kontrolle in Detailfragen die Wahl eindeutig auf das Zusammenfügen verschiedener Bilder in post.

Mein Motiv

Ich begann zunächst, mit der Überlagerung verschiedener Fotos zu experimentieren, um mich mit den Möglichkeiten vertraut zu machen. Dann begann ich mit dem Sammeln von Bildmaterial auf Spaziergängen, insbesondere von Unfallspuren: beschädigte Autos, umgefahrene Verkehrsschilder, Scherben, verbeulte Parkplatz-begrenzungen und Einfahrtstore. Diese kombinierte ich in Photoshop, auch unter Rückgriff auf schon bestehende Fotos, einfach um zu schauen, was sich ergibt, was möglich ist, und um auf neue Ideen zu kommen. Herausgekommen sind dabei einige Studien zum Bildthema.

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Inspiriert von der Hochzeitskomponente in Faurers Foto experimentierte ich auch mit dem Schaufenster eines Hochzeitsmodengeschäfts, das direkt neben einer der Hauptverkehrsachsen von Hamburg liegt. Ich versuchte, die Brautmode im Schaufenster zusammen mit der Reflektion der Kreuzung einzufangen, idealerweise in einem Moment, in dem Rettungsfahrzeuge im Einsatz unter Blaulicht bei Dämmerung die Stelle passieren. Die Reflektion hätte einen ähnlichen Effekt wie die Doppelbelichtung haben können. Es bestand also die Möglichkeit, ein Motiv auch ohne Mehrfachbelichtung oder digitale Nachbearbeitung einzufangen. Trotz langem Warten hatte ich hier allerdings kein Glück damit, und die menschliche Komponente hätte mir letztlich auch gefehlt.

Parallel zu diesen kleinen Experimenten machte ich mir noch mehr Gedanken zum Bildinhalt. Einer davon führt letztlich kreativ mit zum Ziel, nämlich die Frage nach Unfallursachen damals (1952) und heute. Ohne genau zu wissen, wie es in den USA zu jener Zeit war, ist doch allgemein bekannt, dass Alkohol am Steuer früher eine der Hauptursachen für Verkehrsunfälle war. Heutzutage spielt die Ablenkung durch die Nutzung von Mobiltelefonen eine große Rolle, insbesondere beim Autofahren. Es sollen aber auch schon Menschen mit dem Blick auf ihr Smartphone vor ein Auto gelaufen sein. Oder mit dem Blick in ihre Kamera.

Das fertige Bild

Mein Beitrag ist eine Kombination von zwei verschiedenen Aufnahmen. Einerseits ein Street-Foto im eigentlichen Sinne, das eine Frau mit Hygiene-Maske zeigt, die den Blick auf Ihr Smartphone richtet. Wie Faurers Unfall-Szene ist es leicht nach rechts geneigt und leicht von oben fotografiert. Andererseits ein Foto, das ich von einer Fußgängerbrücke aus aufgenommen habe. Es zeigt einen herannahenden Rettungswagen auf einer großen, mehrspurigen Straße in einem mehrspurigen Einmündungsbereich. Die Fahrbahnmarkierungen strukturieren das Bild. Prominente blickführende Linien führen zum Smartphone: die Blickrichtung der Frau selbst, die Leitlinien auf dem Asphalt aus beiden Richtungen der Straße, und letztlich auch die Fahrtrichtung des Rettungsfahrzeugs.

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Der Bildtitel ist „Konzentration“