#communityprojekt100 - 100 ikonische Streetfotos #54
Raymond Depardon Glasgow, Schottland, 1980
Über mich (Jürgen Ries):
In meinen jungen Jahren kam ich zum Fotografieren. Während des Studiums hatte ich die Gelegenheit ein sehr gut ausgestattetes Fotolabor mit benutzen zu dürfen. Meine erste Kamera war eine Minolta XG1 mit zahlreichen Objektiven. Industrie-, Straßen- und Porträtfotografie in Schwarz Weiß war mein Motivschwergewicht. Mit dem Berufsleben, dem erscheinen kleiner Digital-Kameras und der Familiengründung reduzierte sich die Fotoleidenschaft auf das übliche Urlaubs- und Familiengeknipse.
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Im Frühjahr 2019 besuchte ich dann in Plön an der Akademie am See den Fotokurs „Meisterhaft fotografieren“ bei Betti Bogya. Mit einer Panasonic TZ71 Kompaktkamera. Nach dem Kurs erwachte die Leidenschaft zum Fotografieren und ich schaffte mit eine Panasonic Lumix DMC-G81 mit einem 14-140 mm F3,5-5,6 Objektiv an.
Mit Corona 2020 beschloss ich jeden Tag ein aktuelles positives Nichtcoronafoto in meinen Whattsapp-Status zu stellen. Gleichzeitig verfolgte ich regelmäßig Franks Bildbesprechungen auf YouTube. Beides verbesserte zunehmend meine Fotoqualitäten.
So kam es, mich spontan zu Franks #communityprojekt100 zu bewerben und meine Freude war riesig mitmachen zu dürfen.
Und heute, mehr als ein Jahr später bin ich dran mit der Aufgabe:
Hier das google Ergebnis zum Bild!
Über Raymond Depardon:
Geboren 1942 im südfranzösischen Villefranche-sur-Saône, begann er mit 14 Jahren eine Lehre als Fotooptiker. Erste veröffentlichte Reportage 1960 in Paris Match, 1962 zum Militärdienst rekrutiert und als Kriegsberichterstatter im Algerienkrieg eingesetzt. Danach Einsätze in zahlreichen Krisengebieten, Gründung der Fotoagentur Gamma und die Produktion zahlreicher Filme.
1980 erhielt er dann von der bekannten britischen Sonntagszeitung Sunday Times den Auftrag eine Reportage über Glasgow zu fotografieren. Sein Auftrag war Armut und Reichtum in Glasgow darzustellen. Die Reportage wurde nicht gedruckt und verschwand in den Archiven. Sie waren der Öffentlichkeit bis zu einer Retrospektive seiner Arbeiten im Pariser Grand Palais im Jahr 2013 unbekannt. Sie erschienen schließlich in einem 2016 erschienenen Band, der in Buchhandlungen und online erhältlich ist. Raymond Depardon vermachte diese Bilder einem Glasgower Museum.
Einen Film zu den Bildern aus Glasgow findet man unter https://vimeo.com/160108419
Über das Foto:
Das Foto ist eine Farbfotografie in sehr grauen Tönen. Das im Hochformat gemachte Foto zeigt in der oberen Hälfte eine scheinbar heruntergekommene Mietskaserne des Stadtteils Govan. Im Hintergrund ist das Gelände einer Werftanlage zu erahnen.
Die untere Hälfte zeigt einen heruntergekommenen Straßenbelag und zwei „Lausbuben beim Bubblegumblasen. Die rosa Bubbles sind der Farbtupfer in dem ansonsten fast grauen Bild. Zwei weitere Kinder gehen in der Mitte des Bildes fast unter. Insgesamt ein Situationsfoto ohne erkennbare Planung.
Das Foto wurde mit einem 28mm-Objektiv aufgenommen, wie fast alle Bilder dieses Auftrages.
Depandot berichtet, dass die Lichtbedingungen in Glasgow etwas Außergewöhnliches waren. Ganz anders als in den südlichen Regionen, in denen er sonst fotografierte. Nämlich eine sehr niedrige oder kühle Farbtemperatur, die sich ganz von Tschad oder Beirut unterscheidet. Später erfuhr er, dass Kodak seine Filme auf diese Temperatur eingestellt hatte, weil Kodak nördlich von New York, nahe der kanadischen Grenze, Räumlichkeiten hatte: Kodak hatte also einen Film geschaffen, der für das Licht in Glasgow sehr gut funktionierte.
Über den Kontext:
Der Auftrag von Raymond Depardon war, die Stadt als eine übersehene Touristenattraktion zu betrachten und energisch den Klischees von Betrunkenen und grimmigen Mietskasernen, die auf den Abriss warten, zu vermeiden.
Margret Thatcher war seit einem Jahr Ministerpräsidentin, die Irankrise fand ihren ersten Höhepunkt mit der Geiselnahme in der US-Botschaft in Theran, die UDSSR marschiert in Afghanistan ein, im Kino laufen „ET-der außerirdische“ und „Dirty Dancing“, Handys, Internet und Digitalfotos waren noch weit entfernt.
Ich begann gerade mit meinem Studium und dem freien Studentenleben.
Raymond Depardon reist das erste Mal in seinem Leben in den „Norden“ Europas. Er berichtet, dass die Menschen den Franzosen sahen und seine Kamera.
Glasgow erlebte zu dieser Zeit den Untergang seiner Werftindustrie, viele Arbeiter wurden Arbeitslos.
Über meine Umsetzung
• Idee:
Meine Überlegungen zu meinem Aufnahmeort drehten sich um Arbeiterviertel mit den entsprechenden Mietshäusern aus der Zeit um 1900. Nun lebe ich in dem reichen Ingelheim mit zahlreichen kleinen Weinbaugemeinden im Umfeld. Eine Tagestour durch Mainz lies mich in der „Neustadt“ passende Häuser finden, bewohnt von Studierenden, Einkommensstärkeren oder mit Bewohnern mit einem ausgeprägten Migrationshintergrund. Allerdings wurde mir schnell klar, „Lausbuben“ gab es hier nicht. Und es war Sommer. Heute sind die Arbeiterviertel in Neubaugebieten mit Reihenhaussiedlungen zu finden und die Lausbuben hinter Bildschirmen jeglicher Art.
Sicherlich widersprechen mir die Mitwirkenden an diesem Projekt, die in entsprechenden Groß- und Industriestätten leben. Diese Erfahrungen sind mir allerdings fremd.
• Vorbereitung:
Warum in die Ferne schweifen, das gute liegt oft sehr nahe. Die Straße in der ich wohne, besteht aus kleinen Häusern, die bereits vor dem Krieg gebaut waren. Hier wohnen Menschen die in Fabriken und Dienstleistungen arbeiten. Der Bildaufbau der Vorgabe war auch annähernd zu übernehmen. Bleiben also die „Lausbuben“ und der Bubbelgum. Kids unter dem Eindruck der geltenden DSchG zu finden gestaltet sich zunehmend schwierig. In meinem Umfeld gibt es junge Erwachsene oder Kleinkinder. Auch die Suche in den örtlichen Social-Medien war erfolglos. Erschwerend begannen genau in meiner Bearbeitungsphase die Sommerferien. Zumindest war klar, der Bubbelgum musste durch ein zeitgemäßes Utensil ersetzt werden.
Anspruch und Realisierungsmöglichkeiten klafften immer weiter auseinander.
• Realisierung
Die Fristen unserer Spielregeln im Nacken machten einen Plan B erforderlich. Die Beschäftigung mit dem sozialen und gesellschaftlichen Umfeld des Vorlagebildes warf die Frage auf, was machen die Lausbuben heute? Damit war klar, mein Bild war 40 Jahre danach. Schnell fanden sich Nachbarn passenden Alters, die die Aufgabe total spannend fanden. Nicht 15 sondern 55 Jahre, nicht Mietskaserne sondern eigenes Haus oder Wohnung, nicht Bubblegum sondern Straßenkehren oder Sport. Als Farbklecks das blaue Rad und das rote Haus. Die Kids auf 2 sechstel der Vorlage, die Grownups auf 4 sechstel des neuen Bildes, die Sommerfarben am Rechner etwas kühler eingestellt und alle waren begeistert. Der Abend wurde lang und es wurde viel über Fotografie philosophiert …
Schlussbemerkung:
Hier mitmachen zu dürfen war ein tolles Erlebnis und wahrlich aufregend. Das Projekt hat mir die Tür zu klassischen Fotos geöffnet und wird auch zu meiner weiteren Entwicklung beitragen. Mein Dank gilt Frank für seine tolle Idee, meinen Freunden für ihre moralische Unterstützung und vor allem den Modells die mir den Abschluss der Arbeit ermöglicht haben und mit denen ich einen schönen Abend rund ums Foto verbracht habe.